26. Kapitel
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie uns helfen würde«, stellte Emma selbstzufrieden fest, als sie später an jenem Abend mit Edison tanzte.
»Das haben Sie.« Er blickte zum anderen Ende des überfüllten Ballsaals, in dem Victoria umgeben von einigen teuer gekleideten Matronen stand.
Emma folgte seinem Blick. Victoria trug ein schillerndes Kleid aus silbrigem Satin, das von ebenfalls silbrigen Blumen gesäumt und durch einen passenden Turban komplettiert wurde. Während Emma in ihre Richtung sah, fächerte sie sich mit lässiger Eleganz mit einem hübsch dekorierten silberfarbenen Fächer zu.
»Dieses Kleid steht ihr wirklich hervorragend«, stellte sie fest. »Sie stellt all die anderen Damen in ihrer Umgebung in den Schatten. Ihre Großmutter hat wirklich ein Gespür für Mode, finde ich.«
»Das gebe ich zu.« Edison zog seine Brauen hoch und bedachte den Ausschnitt von Emmas Kleid mit einem bedeutungsvollen Blick. »Ich wusste, dass die Kleider, die Letty für Sie ausgesucht hat, viel zu gewagt waren.«
»Sie dürfen Letty deshalb keine Vorwürfe machen. Sie war wirklich mehr als hilfsbereit. Sie hat genau das getan, worum Sie sie gebeten hatten, obgleich sie noch nicht einmal wusste, worum es eigentlich ging.«
Letty hatte sich in höchstem Maße überrascht gezeigt, als Emma von Victoria in ihr Haus eingeladen worden war. »Wer hätte je gedacht, dass sich das alte, starrsinnige Mädchen je dazu herablassen würde?«, hatte Letty gekichert, als Emma ihr am Nachmittag die Situation erklärt hatte. »Aber das sind wunderbare Neuigkeiten, meine Liebe. Ich kann es kaum erwarten, allen zu erzählen, dass die Kluft zwischen Victoria und ihrem Enkelsohn endlich überwunden ist. Ich sage Ihnen, Sie sind heute Abend auf sämtlichen Soireen und Bällen Gesprächsthema Nummer eins.«
Vergnügt war sie aus dem Haus geschossen, um den neuen Klatsch zu verbreiten, während Emma zu einer Schneiderin verfrachtet worden war, die die Ausschnitte all ihrer Kleider höher gesetzt hatte. Edison hatte sich seiner geheimnisvollen Nachforschungen wegen für den Rest des Nachmittages aus dem Staub gemacht und war gerade rechtzeitig nach Hause gekommen, um Emma und Victoria auf den Broadrickschen Ball zu eskortieren.
»Und was haben Sie jetzt vor, nun, da ich sicher bei Ihrer Großmutter untergekommen bin?«, fragte Emma, während sie weiter im Takt der Musik über das Parkett schwebten.
»Ich habe zwei Detektive angeheuert, die das Haus Tag und Nacht bewachen sollen. Einer von ihnen wird Sie darüber hinaus begleiten, falls Sie ohne mich aus dem Haus gehen.«
»Glauben Sie nicht, dass der Schurke es merken wird, wenn sich die ganze Zeit zwei Detektive in meiner Nähe aufhalten?«
»Sie werden als Stallburschen verkleidet sein.«
»Hmm.« Emma dachte kurz darüber nach. »Und was ist mit Ihnen, Sir? Wie wollen Sie mit Ihren Nachforschungen fortfahren?«
»Nun, da ich jemanden habe, der ein Auge auf Sie hat, werde ich als nächstes den mysteriösen Vanzakämpfer aus der Reserve locken. Sobald ich ihn in den Fingern habe, werde ich ihn dazu bringen, dass er mir den Namen seines Meisters nennt.«
»Sie glauben, dass dieser falsche Vanzameister der Mörder ist, nicht wahr?«
»Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich bin der festen Überzeugung, dass er in die ganze Sache verwickelt ist. Wenn ich erst mal erfahren habe, wer er ist, habe ich damit sicher den Schlüssel zur Lösung des gesamten Rätsels in der Hand.«
Emma sah ihn unbehaglich an. »Irgendetwas sagt mir, dass es sicher nicht ganz so einfach werden wird.«
»Ganz im Gegenteil, ich bin sicher, dass alles ganz simpel ist. Die meisten Dinge sind wenig kompliziert, wenn man sie sorgfältig plant und logisch und intelligent zu Werke geht.«
»Und bitte sagen Sie mir doch, was ich machen soll, während Sie dieses gefährliche Spiel mit dem Vanzakämpfer ausfechten.«
»Nichts.«
»Nichts?« Emma runzelte die Stirn. »Aber Sie haben doch gesagt, dass ich Ihnen helfen soll. In der Tat haben Sie mich extra deshalb angestellt. Ich muss darauf bestehen, dass ich meine Pflicht erfüllen darf.«
»Ihre Pflicht besteht darin, sich aus sämtlichen möglichen Schwierigkeiten heraus zu halten«, sagte Edison. »Ich möchte mir nicht auch noch Ihretwegen Sorgen machen müssen, solange ich auf der Suche nach diesem verdammten Vanzakämpfer bin.«
Seine geradezu beiläufige Ablehnung ihrer Hilfe bei den Nachforschungen war zu viel. »Hören Sie, Edison. Ich bin ein Profi, und ich dulde es nicht, wenn man mich behandelt wie ein Gepäckstück, das man in einem Schrank abstellt, bis man es vielleicht mal wieder braucht. Sie wissen sehr wohl, dass ich Ihnen bisher durchaus nützlich gewesen bin.«
»Sehr nützlich.«
Sie sah rot, als sie seinen herablassenden Ton vernahm. »Verdammt, Edison, wenn Sie mir nicht erlauben, die Aufgaben zu erfüllen, derentwegen Sie mich eingestellt haben, sehe ich mich gezwungen, auf der Stelle zu kündigen.«
»Das können Sie gar nicht. Schließlich habe ich noch nicht Ihr Empfehlungsschreiben aufgesetzt.«
»Ich meine es ernst, Sir.«
Wenige Meter von der Stelle entfernt, an der Victoria sie beide erwartete, brachte er sie zum Stehen. Sein Blick verriet nicht die geringste Belustigung.
»Ihre Aufgabe besteht darin zu tun, als wären Sie meine zukünftige Frau«, sagte er. »Ich schlage also vor, dass Sie sich ganz darauf konzentrieren, denn bisher haben Sie in dieser Rolle nicht gerade geglänzt.«
Emma war derart empört, dass sie ihn am liebsten wie ein Fischweib angekeift hätte. Gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass sie sich in einem überfüllten Ballsaal befand.
»Ich habe in der Rolle also nicht geglänzt«, zischte sie erbost. »Ich habe in der Rolle nicht geglänzt? Wie können Sie es wagen, so etwas zu behaupten, Sir? Ich habe die Rolle Ihrer Verlobten geradezu hervorragend gespielt.«
»Da, sehen Sie?« Voll des Bedauerns schüttelte er den Kopf. »Als meine Verlobte sollten Sie lächeln und süß und unbekümmert sein. Stattdessen muss jeder, der uns momentan beobachtet, den Eindruck haben, Sie würden mir am liebsten an die Gurgel springen.«
Sie setzte ihr charmantestes, strahlendstes Lächeln auf. »Damit hätten die, die uns beobachten, ganz sicher Recht.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stolzierte hoch erhobenen Hauptes in Richtung Victoria.
Edison grübelte immer noch über ihre Auseinandersetzung, als er eine Stunde später seinen Club verließ. Er verstand nicht, weshalb ohne jede Vorwarnung plötzlich ein solcher Sturm über ihn hereingebrochen war. Das Letzte, was er heute Abend beabsichtigt hatte, war ein erneuter Streit. Sein einziges Ziel war schließlich, sie in Sicherheit zu wissen, bis der Mörder den Behörden übergeben war.
Edison machte sich nicht die Mühe, herausfinden zu wollen, ob ihn vielleicht durch die dünnen Nebelschleier in der St. James Street jemand beobachtete. Er spürte die Gegenwart des anderen, da ihm ein kalter Schauder über den Rücken rann. Seit zwei Tagen war er sicher, dass ihm der junge Vanzakämpfer beständig auf den Fersen war.
Kutschenlampen schimmerten trüb im Nebel, und Edison machte sich, die vertrauten Geräusche des nächtlichen London in den Ohren, auf den Weg. Das gedämpfte Klappern von Hufen und das Klirren und Quietschen des ledernen Zaumzeugs hallten ebenso in der Dunkelheit wie das trunkene Gelächter einiger modisch gekleideter junger Stutzer.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie die jungen Gecken in eine schmalen Gasse abbogen. Er wusste, sie verbrächten die Stunden bis zur Dämmerung mit der Suche nach diversen Formen des Lasters und ungesunder Vergnügungen. Tief in diesen engen Straßen fänden sie rauchige Spielhöllen und Bordelle, in denen es alle Arten der Perversion zu kaufen gab.
In Edison stieg sein alter Ärger über diese Menschen auf. Sein Vater hatte ein ebenso sorgloses, sinnloses Leben geführt wie diese jungen Draufgänger. Wesley Stokes hatte als einziges Lebensziel die unermüdliche Suche nach bedeutungslosen, lasterhaften Vergnügungen gehabt.
Edison dachte an das, was er Emma an dem Tag hatte sagen hören, als sie von Victoria zum Tee beordert worden war. Es muss Ihnen das Herz gebrochen haben zu erkennen, was für ein verantwortungsloser Schwerenöter Ihr Sohn gewesen ist.
Emma hatte Recht gehabt. Victoria musste die Wahrheit über seinen Vater gekannt haben. Sie war zu intelligent, als dass ihr hätte verborgen bleiben können, dass Wesley im Grunde seines Herzens ein unheilbarer Spieler und ein skrupelloser Frauenheld gewesen war. Wie sehr sie ihn auch sicher geliebt hatte, musste es sie über alle Maßen betrübt haben zu wissen, dass ihr Sohn und gleichzeitig der Stammhalter der Familie durch seine eigenen unkontrollierbaren Leidenschaften der Verdammnis anheim gefallen war.
Auch in allen anderen Dingen hatte Emma Recht gehabt. Sicher hatte Victoria sich die Schuld daran gegeben, dass ihr Sohn ein solcher Widerling gewesen war. Jedesmal, wenn sie Wesleys Porträt in ihrem Wohnzimmer betrachtete, musste sie der Tatsache ins Auge sehen, dass sie bei der Erziehung ihres Sohnes versagt hatte.
Ebenso wie er sich die Schuld daran geben würde, entwickelte sich sein Sohn einmal zu einem wenig ehrenhaften Mann.
Sein Sohn.
Er blickte in den Nebel und sah plötzlich eine Zukunft, nach der er sich schmerzlich sehnte, eine Zukunft, in der Emma ihrer beider Baby in den Armen hielt.
Die Vision war so real, dass er ganz plötzlich stehen blieb. Ein wenig überrascht stellte er fest, dass er weiter gegangen war, als er geplant hatte. Diese Erkenntnis brachte ihn in die Gegenwart zurück.
Ein paar Minuten hatte er beinahe vergessen, weshalb er auf der Straße war. Ein derartiger Lapsus konnte gefährlich sein. Er war nicht hier, um über die Vergangenheit, die Gegenwart und die ungewisse Zukunft nachzudenken. Und dass es generell nicht gut war, wenn man über Dinge grübelte, die man sowieso nicht ändern konnte, hatte er bereits vor langer Zeit gelernt.
Er blickte auf eine vorbeifahrende Droschke und überlegte kurz, ob er sie herbeiwinken sollte. Da er seine eigene Kutsche für Emma und Victoria zurückgelassen hatte, war er ohne Fahrzeug hier. Die beiden Detektive, die er am Nachmittag angeheuert hatte, brächten die beiden Frauen, als Kutscher und Page getarnt, sicher von dem Ball nach Haus zurück.
Er selbst hatte andere Dinge zu erledigen. Und diese Dinge erforderten seine gesamte Aufmerksamkeit.
Er bog in eine nebelverhangene, enge Gasse ein, an deren Ende er die verführerischen Lichter einer Spielhölle ausmachte. In einer nahe gelegenen Tür schnaufte und stöhnte ein Mann heiser über der Prostituierten, die er gegen eine Wand gedrückt hatte, und die aufmunternde Worte murmelte. Ihr Kichern klang grell und vollkommen falsch.
Edison ging weiter in Richtung der strahlenden Lichter der Unterwelt, die am Ende der schmalen Gasse lag. Er drehte sich nicht um und blickte auch nicht über die Schulter zurück. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Er hörte keine Schritte hinter sich, aber er wusste, dass sein Verfolger ebenfalls in den dunklen Weg gebogen war.
Einer solchen Gelegenheit könnte der Vanzakämpfer sicherlich nicht widerstehen. Er war einfach zu jung, um die Vorzüge der Strategie der Geduld verinnerlicht zu haben.
Während er mit ruhigen Schritten in Richtung Spielhölle ging, machte er seinen Mantel auf, schlüpfte gemächlich aus den Ärmeln und legte das schwere Kleidungsstock wie einen Umhang über seine Schultern.
Der junge Kämpfer war überraschend gut. Der Angriff erfolgte schnell und beinahe vollkommen geräuschlos. Hätte Edison ihn nicht erwartet, hätte er das verräterische Wispern leisen Atmens sicher nicht gehört.
So jedoch verriet es ihm die genaue Position des Angreifers.
Edison trat einen Schritt zur Seite und wirbelte herum. Die Lichter der Spielhölle boten gerade genug Helligkeit, als dass er die maskierte Gestalt von der Seite näher kommen sah.
Als er merkte, dass sein Opfer ihn entdeckt hatte, trat der Vanzakämpfer mit seinem schweren Stiefel aus.
Edison wich ein Stück zurück. »Was ist denn das? Gibt es heute etwa keine förmliche Herausforderung? Das ist ja geradezu beleidigend. Wo ist Ihr Sinn für Tradition?«
»Sie ehren die alten Traditionen nicht, und deshalb bedarf es auch keiner traditionellen Herausforderung.«
»Eine äußerst praktische Entscheidung. Gratuliere. Vielleicht gibt es ja doch noch Hoffnung für Sie.«
»Sie machen sich über mich lustig, Oh-Großartiger-der-Sie-aus-dem-Zirkel-ausgetreten-sind. Aber nicht mehr lange, sage ich.«
»Sie täten mir wirklich einen Gefallen, wenn Sie mich nicht immer so anreden würden, als ob ich einer alten Legende entsprungen wäre, junger Mann.«
»Ihre Legende endet heute Nacht.«
Der Kämpfer tänzelte näher, trat wieder zu und verfehlte abermals sein Ziel.
»Legen Sie den Mantel ab«, schnauzte er sein Gegenüber an. »Oder haben Sie wieder die Absicht, eine Pistole zu benutzen, obgleich unser beider Chancen heute gleich groß sind?«
»Nein. Ich habe nicht die Absicht, eine Pistole zu benutzen.« Edison machte einen Schritt zurück und ließ den Mantel von den Schultern gleiten.
»Ich wusste, dass Sie irgendwann die Herausforderung annehmen würden.« Die Stimme des Kämpfers verriet eine gewisse Befriedigung. »Man sagte mir, dass Sie, obgleich Sie aus dem Zirkel ausgetreten sind, immer noch die Ehre eines echten Vanza haben.«
»Eigentlich gehört meine Ehre nicht Vanza, sondern mir.« Edison wich dem nächsten Tritt aus, machte eine halbe Drehung und packte den Knöchel des jungen Mannes, worauf dieser aus dem Gleichgewicht geriet.
Edison nutzte die Gelegenheit. Er ließ einen Schauer kurzer, heftiger Schläge auf ihn hinabregnen, die seinen Gegner nicht verletzten, sondern ihn lediglich weiter aus der Balance brachten.
Der junge Kämpfer warf sich auf den Boden und rollte auf Edison zu.
Er hatte sich wirklich schnell erholt. Geradezu beeindruckend. Die Bewegung war Teil der Strategie der Überraschung, wusste Edison.
Er entschied sich für dieselbe Strategie und sprang, statt auszuweichen, über die Gestalt hinweg, machte eine halbe Drehung in der Luft und traf geschmeidig wieder auf dem Boden auf.
Zu spät erkannte der Angreifer, dass Edison sein Manöver durchschaut hatte. Er sprang blitzschnell wieder auf die Füße, aber es war zu spät.
Edison stand bereits über ihm und drückte ihn erneut auf den nassen Stein. Er spürte, wie sein Opfer vor Furcht und Zorn bebte.
»Es ist vorbei«, sagte er sanft.
Während eines kurzen, angespannten Augenblicks fürchtete er, der Kämpfer wäre nicht zur Aufgabe bereit. Dann hätte er tatsächlich ein Problem. Also suchte er nach den förmlichen Worten, die es seinem Gegner gestatteten, sein Gesicht zu wahren, obgleich er unterlegen war.
»Obgleich ich den Zirkel verlassen habe, wird meine Ehre von keinem Mitglied der Gesellschaft und von niemandem auf Vanzagara selbst in Frage gestellt«, erklärte er. »Aus diesem Grund fordere ich von Ihnen den Respekt, den ein Schüler einem wahren Meister entgegenzubringen hat. Ergeben Sie sich mir.«
»Ich ... ergebe mich.«
Edison zögerte ein paar Sekunden, doch dann ließ er von seinem Opfer ab und richtete sich auf. »Stehen Sie auf, nehmen Sie diese lächerliche Maske ab und treten Sie ins Licht.«
Widerstrebend rappelte der junge Mann sich auf und hinkte in Richtung des Lichts, das aus den Fenstern der Spielhölle in die dunkle Gasse fiel. Dort angekommen, blieb er stehen und zog sich die Maske vom Gesicht.
Edison blickte ihn an und unterdrückte mühsam einen Seufzer. Er hatte wirklich Recht gehabt. Der Kämpfer konnte nicht älter als achtzehn oder neunzehn Jahre sein. Nicht älter als er selbst, als er mit Ignatius Lorring gen Osten gesegelt war. Er bemerkte den störrischen Blick des jungen Mannes und stellte fest, dass er ein Spiegel seines eigenen damaligen Blickes war.
»Wie heißen Sie?«, fragte er ruhig.
»John. John Stoner.«
»Wo lebt Ihre Familie?«
»Ich habe keine Familie. Meine Mutter starb vor zwei Jahren. Und außer ihr gab es niemanden.«
»Was ist mit ihrem Vater?«
»Ich bin ein Bastard«, kam die tonlose Erwiderung.
»Das hätte ich mir denken sollen.« Die Geschichte war ihm derart bekannt, dass er erschauderte. »Seit wann sind Sie ein Vanzaschüler, John Stoner?«
»Seit beinahe einem Jahr.« Die Worte verrieten einen verzweifelten Stolz. »Mein Meister sagt, ich lerne schnell.«
»Wer ist Ihr Meister?«
John blickte zu Boden. »Bitte, fragen Sie mich nicht nach ihm. Ich kann es Ihnen nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil er gesagt hat, Sie wären sein Feind. Obgleich Sie mich im ehrenwerten Kampf besiegt haben, kann ich meinen Meister nicht an Sie verraten. Das hieße, den kläglichen Rest meiner Würde zu opfern, der mir noch verblieben ist.«
Edison trat näher an den jungen Mann heran. »Würden Sie mir seinen Namen nennen können, wenn Sie wüssten, dass er ein falscher Meister ist? Er hat Sie nicht das wahre Vanza gelehrt.«
»Nein.« John hob ruckartig den Kopf. »Das glaube ich Ihnen nicht. Ich habe hart studiert. Ich habe meinem Meister treu gedient.«
Edison dachte über seine Möglichkeiten nach. Wahrscheinlich könnte er den Namen des Abtrünnigen aus John herauspressen, aber dadurch würde der junge Mann tatsächlich seiner Würde, seines letzten wertvollen Besitztumes, beraubt. Edison erinnerte sich allzu gut daran, was für ein Gefühl es war, wenn man außer seiner Ehre nichts besaß.
Er blickte durch eins der Fenster in die Spielhölle. Im grellen Licht der Lampen waren die verruchten Gestalten zu sehen, die zu viel tranken und zu viel aufs Spiel setzten. Gestalten, die nichts mehr zu verlieren hatten, denn sogar ihre Ehre hatten sie bereits vor langer Zeit verspielt. Nach seinem Versagen heute Nacht würde es für John ein Leichtes sein, es diesen nichtsnutzigen Gecken gleichzutun.
Edison fasste einen Entschluss. »Kommen Sie mit.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Ausgang der nebelumwaberten Gasse zu, ohne sich umzudrehen und zu sehen, ob John diesem Befehl auch Folge leistete.
Der Nebel hatte sich gelichtet, als Edison, John im Schlepptau, an den Hafen kam. Das kalte Licht des Mondes fiel auf die Schiffe, die dort leise auf dem Wasser schaukelten. Der vertraute Gestank der Themse hing bleischwer in der Luft.
Sie hatten unterwegs einmal kurz Halt gemacht und Johns bescheidene weltlichen Besitztümer aus einem schäbigen kleinen Zimmer über einer Taverne geholt.
»Ich verstehe nicht.« John rückte sein Bündel auf seiner Schulter zurecht und starrte verwundert an den knarrenden Masten der Sarah Jane hinauf.
»Weshalb sind wir hierher gekommen?«
»Auch wenn Sie mir hin und wieder ein wenig lästig waren, John, haben Sie es geschafft, mich davon zu über zeugen, dass es Ihnen ernst ist mit Ihren Vanzastudien. Ich nehme an, Sie haben es sich im Verlauf der letzten Stunde nicht plötzlich anders überlegt?«
»Anders überlegt? Mit meinen Vanzastudien! Niemals. Auch wenn ich heute Nacht versagt habe, werde ich die Suche nach dem Gleichgewicht, das wahres Wissen bringt, nie aufgeben.«
»Hervorragend.« Edison klopfte ihm auf die Schulter. »Denn ich werde Ihnen die Chance geben, die Vanzaphilosophie so zu studieren, wie man sie studieren soll. In den Gartentempeln von Vanzagara, wo noch die reine Lehre herrscht.«
»Vanzagara?« John wirbelte so schnell herum, dass er beinahe sein Bündel fallen gelassen hätte. Die Laterne, die er trug, erhellte sein verwundertes Gesicht. »Aber das kann unmöglich sein. Vanza liegt in einem anderen Teil der Welt. Ist es nicht genug, dass Sie mich besiegt haben? Müssen Sie sich jetzt auch noch über mich lustig machen, Sir?«
»Die Sarah Jane ist eins von meinen Schiffen. Sie segelt bei Anbruch der Dämmerung in Richtung Ferner Osten los. Einer der Häfen, den sie anläuft, ist Vanzagara. Ich gebe Ihnen ein Schreiben für einen Mönch namens Vora mit. Er ist ein Mann von großer Weisheit. Er wird dafür sorgen, dass man Sie die wahre Philosophie des Vanza lehren wird.«
Immer noch wagte John kaum zu glauben, was er da vernahm. »Sie meinen es tatsächlich ernst.«
»Und ob.«
»Weshalb sollten Sie so etwas für mich tun? Sie schulden mir nichts. Ich habe Ihnen noch nicht einmal verraten, was Sie wissen wollten, nämlich den Namen meines Meisters.«
»Ihres ehemaligen Meisters«, verbesserte Edison. »Und Sie irren sich, ich schulde Ihnen etwas. Sie haben mich an jemanden erinnert, den ich kannte, als ich noch viel jünger war.«
»An wen?«
»An mich.«
Edison geleitete den glücklichen John an Bord der Sarah Jane, informierte den Kapitän, dass er seinen neuen Passagier in Vanzagara von Bord gehen lassen sollte, und kehrte dann noch einmal in die elende kleine Kammer die John Stoner während des letzten Jahres sein Zuhause genannt hatte, zurück.
Das winzige Zimmer war so gut wie leer, doch die Überreste von Johns letzter Meditationskerze lagen in einem Teller auf dem wackeligen Tisch. Edison hatte sie, als er mit John zusammen eingetreten war, bemerkt, aber nichts dazu gesagt. Er durchquerte das kleine Zimmer und hob seine Laterne über die kalten, geschmolzenen Wachsstücke. Edison hob eins der dunkelroten Stücke an seine Nase und atmete tief ein.
Um den Meister zu erkennen, sieh dir die Kerzen seines Schülers an.
Wenn er den Mann gefunden hätte, der John die leuchtend roten Kerzen gegeben hatte, hätte er den falschen Meister ausfindig gemacht.